Fakten gegen Vorurteile #7: Tempolimits=unlogisch?

Kurz und knapp:

Der Kanzlerkandidat der CDU findet Tempolimits "unlogisch". Wir empfehlen gegen Dummheit, Ignoranz und FakeNews wie immer unseren geistigen Aufräumdienst "Fakten gegen Vorurteile", diesmal zum Thema Tempolimits auf deutschen Autobahnen ...

Intro

Alle Jahre wieder ein großes Reizthema: Ein generelles Tempolimit auf der Autobahn.
Obwohl eine Mehrheit der Bevölkerung und die Verkehrswacht für ein solches Tempolimit sind, endeten alle Abstimmungen und Initiativen bisher ohne Erfolg. Selbst Automobilclubs und -verbände haben den Widerstand gegen ein generelles Tempolimit größtenteils aufgegeben – dieser Sinneswandel kam u. A. durch Befragung der eigenen Mitglieder zustande.
Der „gesunde Menschenverstand“ und die Logik sprechen dafür – trotz anderslautender Aussagen von Verkehrsministern und Kanzlerkandidaten:
Geringerer Energieverbrauch, weniger aber vor allem weniger schwere Unfälle oder die Aussicht auf eine stressfreiere Mobilität auf der Autobahn sind neben der Lärmreduktion gut belegbare Gründe für ein Tempolimit. Warum also nicht?

Dagegen!

Genau wie die Debatte selbst, kehren auch die Gegenargumente jedes Jahr wieder…
Sind diese begründet, oder handelt es sich um (gezielte) Desinformation?
Den typischen Gegenargumenten wird getreu dem Motto der Fact’n-Fancy-Reihe auf den Grund gegangen:

Gegenargument Nr. 1:

„Es gibt doch kaum unbeschränkte Abschnitte auf der Autobahn.“

Wie oft sich die subjektive Wahrnehmung und Fakten widersprechen. Tatsächlich sind 70 % der Autobahnkilometer in Deutschland komplett ohne Beschränkung [1] – die Abschnitte mit „klassischen“, statischen Tempolimits machen sogar nur 20,8 % aus.

Gegenargument Nr. 2:

„Deutsche Autobahnen sind doch schon sehr sicher.“

Dieses Gegenargument ist nicht ganz ohne Grundlage.
Tatsächlich gibt es die meisten Verkehrstoten in Deutschland auf Landstraßen – immerhin 11,7 % (356 Menschen) starben 2019 aber auf den Autobahnen [2].
Ein Tempolimit auf der Autobahn schließt außerdem eine sukzessive Verbesserung der Verkehrssicherheit in anderen Bereichen nicht aus.
Häufig wird auch der europaweite Vergleich gezogen – auf einmal gilt dann nicht mehr der Leitspruch des deutschen Autofahrenden „Das Beste oder Nichts“ sondern wohl eher “Besser als Slowenien reicht“.
Nachbarländer wie die Niederlande oder Frankreich, die hinsichtlich Straßenbau, Fuhrpark oder der Führerscheinausbildung Deutschland eher nahekommen und die ein Tempolimit haben, werden dabei gerne weggelassen indem man Tabellen entsprechend abschneidet.
In den Jahren 2011 bis 2013 gab es dort nämlich deutlich weniger Verkehrstote je Milliarde Fahrzeugkilometer auf den Autobahnen [3]:

  • Deutschland 1,9
  • Frankreich 1,7
  • Niederlande 1,2
  • Dänemark 0,8

Dass es sich bei dem Zusammenhang zwischen Tempolimit und Unfallgefahren definitiv nicht nur um eine Theorie handelt, konnte sogar schon praktisch nachgewiesen werden:

„Ein 62 Kilometer langer Abschnitt der A24 zwischen den beiden Autobahndreiecken Wittstock/Dosse und Havelland bis Dezember war 2002 noch ohne Tempolimit. Danach wurde eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 130 km/h eingeführt, und die Auswirkungen wurden analysiert. (…) Die Zahl der Unfälle halbierte sich anschließend, von 654 Unfällen in drei Jahren ohne Tempolimit auf 337 Unfälle in drei Jahren mit 130 km/h.“ [4]

Auch für diesen blitzsauberen Nachweis darf man mit Gegenwind rechnen. Denn es gab ebenfalls Experimente, die zulässige Geschwindigkeit zu erhöhen.
Liest man etwas mehr als nur die Überschrift erfährt man allerdings:

  • Das Tempolimit wurde nur leicht an- und nicht aufgehoben (130 auf 140 km/h in Österreich und 110 auf 130 km/h in Dänemark).
  • Trotz Anhebung des Tempolimits sank die Durchschnittsgeschwindigkeit in Dänemark. Die geringeren Unfallzahlen erklärte man sich mit der vermehrten Beschilderung, gleichmäßigerem Tempo und weniger Rasern [5].
  • In Österreich gab es etwa gleich viele Unfälle mit Personen- oder Sachschäden [6], was bei der marginalen Veränderung und dem generellen Trend (weniger Unfälle) wenig verwundert.

Was bleibt? Deutsche Autobahnen sind nicht die gefährlichsten Straßen in Deutschland und auch nicht die gefährlichsten Autobahnen in Europa – sie könnten aber sehr einfach mit einem Tempolimit deutlich sicherer werden.

Gegenargument Nr. 3:

„Die Auswirkungen eines generellen Tempolimits auf die CO2 Emissionen sind marginal.“

Bei diesem Gegenargument gab es viel Desinformation – es wurden niedrige prozentuale Einsparpotenziale genannt, die man durch Manipulation des Bezugswertes berechnete (beispielsweise mögliche Einsparungen durch Tempolimit bezogen auf Gesamtemissionen des Straßenverkehrs oder sogar auf die weltweiten Verkehrsemissionen). „Geschickte“ Rechentricks und ein noch so ungesunder Menschenverstand können die Gesetze der Physik allerdings nicht verbiegen.
Ein Ausflug in die Welt der Fahrwiderstände: Jede Fortbewegung zu Land wird durch verschiedene Kräfte erschwert. Für landgebundene Fahrzeuge, egal ob auf Schienen oder Straßen, sind hier insbesondere der Rollwiderstand und der Luftwiderstand von Bedeutung.
Der Antrieb eines jeden Fahrzeugs muss genug Leistung aufbringen, um neben den internen Widerständen (Lagerreibung, etc.), Hangabtriebs- und Trägheitskräften  die obengenannten Widerstände zu überwinden.
Dabei gilt es zu beachten: Während der Rollwiderstand nahezu unabhängig von der Geschwindigkeit ist, wächst der Luftwiderstand quadratisch mit der gefahrenen Geschwindigkeit.
Während ein Pkw innerorts durchschnittlich nur 9 % seiner abgegebenen Leistung für die Überwindung des Luftwiderstandes aufwenden muss, sind es auf der Autobahn schon 70 % [7].

Was bedeutet hier quadratisch? Für die Überwindung des Luftwiderstandes muss auf gleicher Strecke, z. B.

  • Das 4-fache an Energie aufgewendet werden, um doppelt so schnell zu fahren.
  • 20% mehr Energie aufgewendet werden, um 10% schneller zu fahren.

Schnell fahren kostet also viel Energie – langsamer fahren spart Energie. Die Zusammenhänge sind gut erforscht, und tatsächlich beschäftigen sich viele Menschen damit, die sogenannten cW-Werte von Fahrzeugen zu optimieren.
Leider ist der cW-Wert nicht der einzige Parameter, der sich auf den Luftwiderstand auswirkt. Neben der Fahrgeschwindigkeit ist insbesondere die Größe der Frontfläche des Fahrzeuges relevant.

Funfact für Zwischendurch: Während man sich im Fahrzeugbau für cW-Werte deutlich unter 0,30 schon auf die Schulter klopft, erreicht ein Pinguin 0,03.

 

Um die ganzen Formeln einmal mit praktischen Werten zu illustrieren ist der berechnete Benzinverbrauch infolge des Luftwiderstands für verschiedene Fahrzeuge bei unterschiedlichen Geschwindigkeiten aufgezeichnet.
Der Verbrauch infolge Rollwiderstand, innerer Reibung und Trägheit käme jeweils noch dazu.
Die Fahrzeuge unterscheiden sich durch ihre cW-Werte und Frontflächen.
Dabei wird davon ausgegangen, dass aus einem Liter Normalbenzin ca. 3 kWh Antriebsenergie erzeugt werden können, was einem Motorwirkungsgrad zwischen 30 und 40 % entspricht [8].
Wieviel Energie, Benzin und Emissionen oder Geld man bei niedrigerer Geschwindigkeit spart, kann hier nun jeder selbst ablesen.
Bei einer Fahrtstrecke von 100km und einer Geschwindigkeit von 120 km/h statt 180 km/h würden z. B. mindestens 4 Liter Benzin eingespart. Dass die Einsparungen (insbesondere auf der Autobahn) erheblich und nicht marginal sind, steht somit außer Frage. Viel schwieriger zu berechnen sind die zusätzlichen Einsparungen durch eine Verstetigung der Fahrgeschwindigkeit – denn für die o. g. Berechnungen wurde eine absolut konstante Geschwindigkeit über 100 km Wegstrecke angenommen – in der Praxis fallen zusätzlich Bremsmanöver an, die bei großen Differenzgeschwindigkeiten häufiger auftreten.
Ein weiterer – sehr wichtiger! – Punkt betrifft das Downsizing des Antriebes: Möchte man schneller unterwegs sein, verbraucht man nicht nur mehr Energie pro gefahrenen Kilometer. Man benötigt auch mehr Antriebsleistung und zwar nicht zu knapp:
Muss ein Fahrzeug statt 120 km/h nämlich 180km/h fahren können, ist dazu ca. die dreifache Antriebsleistung notwendig – der Antrieb muss nämlich nicht nur insgesamt mehr Energie, sondern diese auch in kürzerer Zeit bereitstellen können (Im Beispiel: Mehr als doppelt so viel Energie in 2/3 der Zeit). Der Rattenschwanz oder auch Teufelskreis dahinter sieht wie folgt aus:
Soll ein Fahrzeug höhere Geschwindigkeiten erreichen können, dann braucht es:

–––> Mehr Leistung  ––––> Mehr Gewicht (größerer Motor, größerer Tank/Batterie, größeres Fahrzeug) ––––> Mehr Leistung ––––> ….

Gegenargument Nr. 4:

„Die Durchschnittsgeschwindigkeit auf deutschen Autobahnen liegt doch sowieso schon unterhalb von 130km/h.“

Streiche „sowieso“ und der Satz stimmt. Der Zweck eines Tempolimits auf Autobahnen ist es aber nicht, die Durchschnittsgeschwindigkeit senken – durch Reduzierung der Geschwindigkeitsdifferenzen könnte sogar das Gegenteil geschehen (wie im umgekehrten Fall in Dänemark: s. o. Anhebung des Tempolimits ––––> niedrigere Durchschnittsgeschwindigkeit) und das sogar bei weniger Energieverbrauch. Für die Fahrtzeit macht es keinen Unterschied ob man in der ersten halben Stunde 100 und in der zweiten 160 km/h gefahren ist, oder die ganze Zeit 130 km/h. Bei Verbrauch und Emissionen sieht es anders aus. Im Beispiel (Gesamtstrecke 130km) läge der Verbrauchsunterschied je nach Fahrzeug bei 1 bis 2 Liter Benzin.

Gegenargument Nr. 5:

„Die deutschen Autobahnen sind immer voll – wenn wir noch langsamer fahren geht doch hier bald gar nichts mehr.“

Das Gegenteil ist richtig – die maximale Verkehrsleistung einer Spur in Fahrzeuge-pro-Stunde steigt eher bei verringerten Geschwindigkeiten. Neben den o. g. Effekten (verringerte Geschwindigkeitsdifferenzen) wird jeder Vorteil größerer Fahrtgeschwindigkeiten durch einen ebenso vergrößerten notwendigen Sicherheitsabstand zwischen den Fahrzeugen zunichte gemacht. Die Abstandsregel „halber Tacho“ würde eine vergleichbare Verkehrsleistung zwar theoretisch ermöglichen, ergibt aber aufgrund des quadratisch mit der Geschwindigkeit zunehmenden Bremsweges eigentlich einen zu geringen Sicherheitsabstand, bzw. eine Verringerung der Verkehrssicherheit.

Gegenargument Nr. 6:

„Ich habe es oft eilig und liebe den Kick hoher Geschwindigkeit.“

 

Das lassen wir einfach mal so stehen – denn die Gegenargumente 1 – 5 sind lediglich Feigenblätter um Gegenargument Nr. 6 nicht nennen zu müssen.
Warum? Zeit sparen zu wollen oder das Abenteuer zu suchen ist in der heutigen Zeit ein vertretbares Bedürfnis – allerdings sind die negativen Begleiterscheinungen der Befriedigung dieses Bedürfnisses auf öffentlichen Straßen zu gut bekannt: Erhöhter Energieverbrauch, höhere Emissionen (auch Lärm) und – nicht zuletzt – die Gefährdung von Mitmenschen in und außerhalb des eigenen Pkw. Dieses Gegenargument wäre ein Ehrliches – auch wenn es dafür wohl eher kaum Beifall geben dürfte.

Fazit

Sachlich begründeter Widerstand gegen ein allgemeines Tempolimit ist bei heutiger Faktenlage nicht mehr haltbar.
Alles was den persönlichen „Way-of-Life“, bzw. die persönliche Freiheit einzuschränken droht, stößt natürlich bei vielen Menschen zunächst auf einen inneren Widerstand.
Egal ob im Stillen oder in der kontroversen Diskussion unter Menschen: Spätestens bei Erreichen von Gegenargument Nr. 6 ist jeder Mensch auf dem besten Weg seine Haltung zu verändern, weil die Vorteile eines generellen Tempolimits nicht mehr nur vage bekannt, sondern auch erklärt, diskutiert und quantifiziert wurden.
Zu diesem Zweck kann dieser Beitrag gerne verwendet werden.

Quellen (abgerufen am 21.07.2021)

[1] https://de.statista.com/infografik/16725/tempolimitregelungen-auf-bundesautobahnen/
[2] https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2020/07/PD20_265_46241.html
[3] https://kubraconsult.blog/2019/10/18/generelles-tempolimit-auf-deutschen-autobahnen-daten-und-fakten/
[4] https://www.spiegel.de/auto/aktuell/tempolimit-mit-130-km-h-sinken-die-unfallzahlen-drastisch-a-1249595.html
[5] https://www.welt.de/vermischtes/article668137/Daenemark-Tempolimit-rauf-Unfaelle-runter.html
[6] https://www.focus.de/auto/ratgeber/sicherheit/ergebnisse-des-feldversuchs-statt-130-km-h-tempo-140-in-oesterreich-hat-unfaelle-reduziert-und-umwelt-nicht-geschadet_id_11724756.html
[7] https://www.adac.de/rund-ums-fahrzeug/ausstattung-technik-zubehoer/reifen/reifenkauf/rollwiderstand/
[8] https://kraftstoff-info.de/vergleich-der-kraftstoffe-nach-energiegehalt-und-dichte

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